Vor kurzem ist mir ein Artikel begegnet, welcher über die schlechte Führung in Pflegeeinrichtungen, insbesondere durch die obersten Etagen, berichtete. Ob die Führung so schlecht ist, dazu will ich mich hier nicht äussern. Was allerding bei mir hängengeblieben ist, sind die – so wurde es beschrieben – beziehungs- und gefühlslosen Entscheidungen, die offenbar getroffen wurden.
Dieses nach aussen wirkende gefühllose oder beziehungslose Verhalten, beobachte ich immer wieder in meinen Beratungen. Ich wundere mich in solchen Fällen nicht mehr über all die schwierigen Situationen und Begebenheiten, die dadurch kreiert werden. Für die betroffenen Personen selbst oder für alle in ihrem Umfeld.
Für gewisse Managemententscheide mag dieses Verhalten zielführend sein. Ist es für die heutige Arbeitswelt und die Führungskultur noch förderlich, mit unterdrückten Gefühlen durchs Leben und die Arbeit zu gehen? Und was ist der Preis, den wir alle bezahlen, weil Gefühle nicht gefühlt werden dürfen?
Sich dieser Frage zu stellen, bedingt keine hohe Führungsposition. Wir können alle bei uns selbst beginnen und die Wirkung von fühlen oder nichtfühlen bei uns und in unserem Umfeld beobachten.
Unsere Angst, Gefühle zu fühlen
Viele Menschen haben Angst, Gefühle wirklich zu fühlen. Das war lange Zeit ein von der Gesellschaft gewolltes Verhalten und ist in vielen sozialen Kontexten (Familien, Schule, Beruf, Militär usw.) trainiert worden. Gefühle waren tabu und hatten keinen Platz.
Auch wenn die heutige Gesellschaft eine andere ist, haben viele von uns noch nicht gelernt, wie fühlen geht und wie wir mit unseren Gefühlen umgehen können. Sind wir in Familien aufgewachsen, in denen auch unsere Eltern keinen Bezug zu ihren Gefühlen hatten, sie unterdrückten oder abspalteten, tun wir dies möglicherweise auch. Wir haben es nicht anders gelernt und erfahren.
Gefühle können jemanden ängstigen, weil sie nicht wie eine Sache greifbar sind. Sie können unberechenbar, diffus, gross, unheimlich sein und das macht Angst. Sicherer ist, nicht in ihre Nähe zu kommen, die Gefühle nicht wahrhaben zu wollen, nötigenfalls abzuspalten und zu unterdrücken. Dies kann in bestimmten Lebensphasen eine Überlebensstrategie sein. Gefühle nicht zu fühlen, ist immer ein Schutz davor, verletzt zu werden, denn wenn wir nicht fühlen, können wir auch nicht verletzt werden. Was bleibt, wenn wir nicht fühlen gelernt haben? Das Denken ist sicherer und wir haben es unter Kontrolle.
Ausweichstrategie: Denken
Wollen wir die auftauchenden Gefühle nicht fühlen oder wissen wir nicht, wie damit umgehen, gibt es Ausweichstrategien. Das blosse Denken ist wohl die wichtigste davon, d.h. sich in die eigene Verstandeswelt zurückzuziehen, wo Gedanken, Logik, Analytik und Vorstellungsvermögen zu Hause sind.
Damit kein Raum bleibt, sich den eigenen Gefühlen zu widmen, arbeiten Menschen sehr viel mental und bevorzugen Arbeiten, die den Verstand erfordern. Das Extrem davon zeigt sich bei Workaholics. Eine andere Form zeigt sich beim dauernden beschäftigt sein mit belanglosen Dingen wie Smartphone, Computer, TV, Putzen usw.
Dem Fühlen aus dem Weg zu gehen, kann auch durch den Konsum von Alkohol, Nikotin, Essen, Shoppen, Psychopharmaka oder anderer Drogen erfolgen. Fühlen wir uns unwohl mit den aufkommenden Gefühlen und können wir sie nicht gänzlich unterdrücken oder handhaben, kompensieren wir das Unwohlsein mit etwas. Sucht entsteht, weil wir nicht fühlen wollen. Tun, um nicht zu fühlen. Denken ist wie Tun. Und Sucht ist dann der schnelle Weg zur Lösung, zum Weghaben der unangenehmen Gefühle.
Was bewirkt das Nicht-Fühlen von Gefühlen?
Menschen, die keine Verbindung zu ihren Gefühlen haben …
- sind häufiger in der Lage, Entscheide zu fällen, die die eigene Gefühlswelt wie die ihrer Mitmenschen und Mitarbeitenden ausser Acht lassen.
- kommunizieren und handeln oft sehr sach- und verstandesorientiert. Gefühle ansprechen gelingt ihnen nicht.
- können sehr gefühlskalt oder distanziert wirken, bis hin zu asozial.
- benötigen sehr viel Energie für das Unterdrücken der Gefühle. Es ist wie einen Ball ständig unter Wasser halten.
- verfolgen häufig einen sehr eingleisigen, verstandesorientierten Weg, der ihnen Sicherheit gibt. Alles andere wäre zu «gefährlich», weil Gefühle auftauchen könnten.
- «fressen» Persönliches in sich hinein und «machen es mit sich selbst aus». Mit jemandem darüber reden ist wie fühlen und gefährlich. Dadurch können sie insgesamt sehr einsam und allein sein.
- sind entweder nicht in der Lage, lange Beziehungen zu führen oder sie verlassen eine Beziehung, wenn es darum geht, ihre Gefühle wahrzunehmen und in die Beziehung einzubringen.
- leben mit einer inneren Unruhe und Unzufriedenheit, weil die Gefühle dennoch im «Untergrund» anklopfen und nicht weichen wollen.
- erfahren immer wieder die gleichen Lebensthemen, weil alte Wunden nicht geheilt und alte Themen nicht aufgearbeitet wurden.
Weil wir Menschen häufig nicht gelernt haben unsere Gefühle zu fühlen, leben wir teilweise sehr entfremdet von anderen Menschen, von der Natur und Umwelt. Das führt dazu, dass auch im Geschäftsalltag Entscheide getroffen werden, die gefühls- und seelenlos sind.
Die Zeit Gefühle nicht zu fühlen ist vorbei!
Weigern wir uns weiterhin, unsere Gefühle zu fühlen, bleibt eine Hälfte unserer Lebensmöglichkeiten auf der Strecke. Das Fühlen von Wut, Ohnmacht, Scham, Angst, Trauer ist notwendig, damit auch Gefühle der herzhaften Freude, Liebe, Heiterkeit erfahren werden können und ein lebensbejahendes, fröhliches Lebensgefühl entstehen darf.
Fühlen macht uns lebendig und ganz und wir bewegen uns mitten ins Leben.
4 Schritte, wie du deine Gefühle fühlen lernen kannst
Schritt 1
Zu Beginn kann es hilfreich sein, anzuerkennen, dass du etwas fühlst. Das mag simpel klingen, doch sind wir uns nicht gewohnt zu fühlen, ist dies ein wichtiger erster Schritt.
Dazu ist es hilfreich, wenn du dir einen Moment Zeit für dich nimmst, atme 2 – 3 tief ein und richte danach deine Aufmerksamkeit nach innen, in dein Herz.
Was nimmst du gerade wahr? Wie fühlt es sich an? Wie würdest du dieses Gefühl beschreiben?
Gefühle beschreiben und benennen lernen, nimmt ihnen ihre unbekannte, diffuse Macht.
Praktiziere diesen Schritt so lange, bis dir die drei Fragen regelmässig eine Antwort liefern.
Schritt 2
Im nächsten Schritt geht es darum, die Gefühle anzunehmen. Ob angenehme oder unangenehme Gefühle. Alle Gefühle wollen gefühlt werden.
Annehmen heisst für mich in diesem Schritt: ich nehme dieses Gefühl gerade jetzt wahr und anerkenne, dass ich «eine grosse Wut» (oder was es dann auch immer ist) fühle.
Schritt 3
In einem weiteren Schritt kann dir dein Körper dienlich sein. Gib einem unangenehmen Gefühl Raum, so dass es sich zeigen und du es spüren darfst. Gehe mit deiner Aufmerksamkeit zu deinem Körper und nimm wahr, wo sich dieses Gefühl gerade bemerkbar macht (z.B. Last auf der Schulter, Druck auf der Brust, Kloss im Hals, Jucken am Knie usw.). Nimm das Gefühl an und heisse es willkommen. Dies kann in etwa so gehen: «ich nehme dich wahr; es ist ok, dass du da bist».
Was geschieht mit dem Gefühl, wenn du es annimmst? Verändert es sich? Und wenn ja, wie? Nimm dir Zeit, dies zu erfahren
Schritt 4
Nimmst du ein Gefühl wahr, lohnt es sich, zu verstehen, warum du es fühlst und was die Botschaft dahinter ist.
Mit dem folgenden Satzanfang kannst du das Gefühl erforschen: «Fühle ich mich …, weil…». Ein Beispiel dazu: «Fühle ich mich wütend, weil ich enttäuscht bin?» Du kannst weiterfragen, bis du eine klärende Antwort von deinem Gefühl erhalten hast.
Die Botschaft, die im Gefühl steckt, ist wie ein Samenkorn für etwas was sich in deinem Leben entwickeln darf.
Wichtig: Gelingen das Fühlen und Wahrnehmen nicht auf Anhieb, verurteile dich nicht dafür. Verurteile dich auch nicht für das Fühlen von negativen Gefühlen. Sie gehören zu unserem Leben genauso wie Freude, Liebe usw.
Dir wünsche ich ein gefühlvolles Jahr. Mögen Freude, Leichtigkeit, Heiterkeit dein Leben bereichern und dich ganz werden lassen.
Wie denken zu viel und fühlen zu wenig!
Charlie Chaplin