Wir und unsere Arbeit
Arbeit und Karriere machen für viele Menschen einen bedeutenden Teil der Identität aus. Dies zeigt sich nicht nur an Anlässen, wenn die Frage kommt: «und was tust du?» Die Antworten sind in der Regel in etwa so: «Ich bin Versicherungsfachmann.», Ich bin Ärztin.» oder «Ich bin selbständig…» Das lässt den Schluss zu, dass wir nicht etwas tun oder machen, sondern etwas sind und in diesem Fall: Wir sind unser Job.
Unzählige von uns kommen damit gut klar und haben nebst dem Berufsleben, ein erfülltes Privat- und Freizeitleben. Kritisch wird es, wenn der Selbstwert und das Wohlbefinden von der beruflichen Leistung oder Karrierestufe abhängen. Spätestens mit der Pensionierung, dem Verlust der Arbeitsstelle oder verursacht durch eine längere Krankheit, ein Burnout gibt es für betroffene Menschen einen harten Schnitt und nicht selten ein tiefer Fall in ein Loch.
Wie kann es dazu kommen?
Wie leben in einer Gesellschaft, die Leistung fördert, ob in der Schule, an der Uni, in einer Anstellung oder auch als Selbständige. Leistung ist für viele von uns, der Gradmesser für Bestätigung, Zufriedenheit oder Selbstwert. Und Leistung und Erfolg sind in unserer Gesellschaft ein Massstab für gesellschaftliche Anerkennung ob im Beruf, Sport oder gar als Familie.
Oft höre ich – und kenne es aus eigener Erfahrung – «ich definiere mich über Leistung» oder «Ich bin ein Leistungsmensch». So weit so gut. Leistung kann Freude machen, anspornen ein Ziel zu erreichen. Verschwinden jedoch Lebensfreude, ist der Stress permanent hoch und gesundheitliche Probleme nehmen zu, ist der Preis für Leistung hoch. Meines Erachtens, zu hoch.
Sich ausschliesslich über die Arbeit, Karriere und Leistung zu definieren, kann nur funktionieren, wenn wir einen Teil von uns abtrennen, nämlich den empfindsamen Teil in uns, der für Fürsorge, Liebe, Selbstachtung, Selbstwert und Wärme steht. Sich ausschliesslich über «Gewinne» im Äusseren zu definieren, kann nur über eine Abtrennung vom wahren inneren Wesen erfolgen. Lassen wir uns von unserer inneren Stimme und unserem Herzen führen, ist dies nicht mehr möglich.
Ein Leben in dieser Abtrennung wirkt wie entseelt. Arbeit und Leistung im Übermass, wie viele dies in unserer Leistungsgesellschaft praktizieren, tragen zu dieser Entseelung bei. Fragen, die diese Menschen bewusst oder unbewusst beschäftigen, können sein: «Bin ich gut genug?», «Bin ich perfekt / schön / schnell / passend genug?» «Reicht das, was ich getan habe/leiste aus?»
Leben wir zu einem grossen Teil im Feld der Leistung und des beruflichen Erfolgs, abgespalten von unserer empfindsamen Seite, haben wir viel von unserer Macht abgegeben. Wir glauben anderen Menschen, die uns sagen oder sagten, was für uns gut ist, mehr als unserer inneren Stimme, also unserer inneren Führung im Herzen.
Gründe dafür können Glaubenssätze und Werte sein, die wir von unseren Eltern übernommen oder als Kind erfahren haben, wie zum Beispiel «zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen» oder «nur wenn ich leiste, werde ich geliebt» usw. Aus meinen Erfahrungen werden diese übernommenen Werte und Glaubenssätze kaum überprüft sondern solange befolgt, bis es zu einer Form von Zusammenbruch des Alten kommt, sei dies den Verlust einer Arbeitsstelle, einer Beziehung oder eines Burnouts, einer Krankheit oder anderem.
Wie kann eine Balance zwischen Leistung und Herz wieder entstehen?
Sich über Leistung zu definieren, kam nicht von einem Tag auf den anderen. In der Regel steckt eine lange Geschichte dahinter, die oft zurück in die Kindheit reicht. D.h. dass auch der Weg aus der Falle der Leistungsidentifikation nicht von einem Tag auf den anderen erfolgen kann.
- Der erste Schritt ist deine Entscheidung, deine Leistungsorientierung anzugehen. Ein guter Grund: dein Bild von dir sollte nicht nur von deiner Leistung abhängen – und dies unabhängig davon, ob du gerade zufrieden bist im Leben oder eben nicht. Du als Mensch solltest im Zentrum deines Bildes stehen und nicht deine Leistung.
- Ein zweiter Schritt kann eine Analyse deines Lebens sein. Sei dies mit einer Methode wie dem Lebensrad oder ganz einfach, dass du dir deine Lebensbereiche aufnotierst und dir bewusst wirst, welche Lebensbereiche neben deinen Leistungsfeldern (Beruf, Sport, sonstige Hobbys etc.) wie viel Raum einnehmen.
- Finde deinen eigenen Weg. Albert Einstein prägte den Satz «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind». Bist du ein Mensch, der sehr von A nach B denkt und handelt, kann es dienlich sein, dir einen neuen Weg zuzugestehen, der dich auch auf Abwege mitnehmen kann. D.h. dass «Fehler» oder Umwege in Ordnung sind. Wagst du dich auf Umwege, können sich neue Ansätze zeigen, die auf geradem Weg nicht sichtbar wären.
- Suche dir Gesprächspartner:innen im privaten Umfeld oder einen Coach und teile mit ihnen deine Gefühle und Gedanken. Auch wenn es ein grosser Schritt ist, dich von dieser Seite zu zeigen, kann dir dies Türen öffnen und Raum geben, für deinen neuen Weg und dein neues Verständnis von dir und deinem Leben.
Das Revolutionärste, was du tun kannst, ist zu erkennen, dass du genug bist.
Carlos Andrés Gomez